Moritz Schlick an Albert Einstein

Rostock, den 10. Juni 1920 (1)

Orléans-Str. 23

Lieber, hochverehrter Herr Professor,

gestern kam Ihr freundlicher Brief. Vielen herzlichen Dank, daß Sie so ausführlich auf mein Geschreibsel eingegangen sind! Ich wollte nur, ich hätte Ihnen das Manuskript ein wenig früher gesandt; dann hätte ich noch einiges ändern können. Aber jetzt ist es zu spät, da längst alles für die Naturwissenschaften gesetzt ist; das betreffende Heft ist bereits morgen, den 11ten fällig. Seien Sie nicht böse, wenn ich heute Ihre Zeit noch einmal mit dem alten Kausalprinzip in Anspruch nehme, indem ich auf einige Punkte nochmals eingehe! Ich möchte so gern zur letztmöglichen Klarheit vordringen.

Was die Möglichkeit der Kausalität in einer Welt ohne Gleichförmigkeit betrifft, so habe ich, wie ich fürchte, in der Erklärung meiner Ansicht eine Lücke gelassen, und ich hoffe, daß nach ihrer Ausfüllung keine Meinungsverschiedenheit übrig bleibt. Gewiß könnten wir z.B. zur Auffindung der Gravitation gelangen durch die Beobachtung von Kometen, die alle in verschiedenen hyperbolischen Bahnen um die Sonne laufen. Ich möchte aber glauben, daß wir ohne eine gewisse Wiederholung des Gleichen in der Natur nicht einmal imstande wären, den Kometenlauf auch nur richtig zu beschreiben und quantitativ festzulegen. Wir bedürfen zur Konstatierung der verschiedenen Kometenörter wohl gewisser Instrumente, die sich zu verschiedenen Zeiten gleich einstellen lassen, wir müssen an ihnen Messungen vornehmen können, und die praktische Anwendung jeder Skala und jedes Zifferblattes scheint mir auf dem Prinzip der Wiederholung physisch gleicher Vorgänge zu beruhen. Wenn wir sagen, daß den verschiedenen Kometenbewegungen das gleiche Gravitationsgesetz zugrunde liegt, so scheint mir der prüfbare Sinn dieser Aussage nur darin bestehen zu können, daß uns der Vollzug ganz bestimmter auf die Kometenbeobachtung bezüglicher Operationen irgendwie zu gleichen Erlebnissen führt. Derartige Überlegungen schienen mir ganz prinzipielle Gültigkeit zu haben, und so glaubte ich, man dürfe von einer Gesetzmäßigkeit ohne Wiederkehr des Gleichen nicht reden. Irre ich hierin doch? Es wäre schön, hierüber noch eine Aufklärung zu erhaltenhoffentlich sogar mündlich in der nächsten Zeit!

In der Frage nach der Verletzung des Kausalpostulates durch das alte Trägheitsgesetz (der Philosoph H. Driesch, jetzt Ordinarius in Köln, hat von ihm komischerweise erklärt: das Trägheitsgesetz ist der „angewandte Kausalsatz, weiter nichts“) muß ich fürchten, noch nicht die letzte Klarheit erlangt zu haben. Ich sehe nämlich noch nicht ganz klar, wie weit eigentlich Ihre Ansicht von den Ausführungen meines Aufsatzes abweicht. Ein Teil Ihrer Bedenken scheint sich gegen den ersten Ansatz zur Lösung zu richten, der in dem Artikel selbst nur als vorläufig betrachtet und hinterher verbessert wirdfreilich wohl nicht genug. Der Sinn der Betrachtung ist zunächst nur, daß der absolute Raum, den die Newtonsche Mechanik selbstverständlich annehmen muß, von ihr doch nicht als Ursache im Sinne des Kausalprinzipes betrachtet zu werden braucht. M.a.W.: sie braucht die Trägheitswiderstände bei gewissen Bewegungen nicht als Wirkung einer absoluten Beschleunigung anzusehen, sondern kann sie auch als deren definitorisches Merkmal auffassen. Dieser Satz scheint mir aber Ihrer Ansicht nicht zu widersprechen, und wenn ich recht verstanden habe, irre ich nur in der Erklärung des Grundes, warum die Newtonsche Betrachtungsweise so unbefriedigend ist. Ich glaubte ihn darin zu finden, daß die alte Mechanik mit der Kausalerklärung früher halt machte als nötig war; verstehe ich recht, daß sie früher halt machte, als sie überhaupt durfte? Das letztere schien mir nur unter den im Aufsatz angegebenen Voraussetzungen zu folgen, die ja freilich für die jetzige Wissenschaft unaufhebbare Postulate sind. Daß es eine unerlaubte Schematisierung war, von den Eigenschaften eines Körpes zu reden, als wenn es deren nur eine endliche Anzahl gäbe, muß ich natürlich zugeben; ebenso daß ein Teil der Eigenschaften stets eine Folge der übrigen ist, sobald der Körper einem „theoretischen System“ angehört. Nur schien es mir eben in der Erfahrung keine anderen theoretischen Systeme zu geben als solche, die mit Prozessen operieren (Vierdimensionalität alles Wirklichen).

Ich hatte wohl auch unrecht mit der Behauptung, ein Gravitationsfeld sei nicht im gleichen Sinne beobachtbar wie die Massen. Es trifft das höchstens in dem ganz groben Sinne zu, in dem man sagen darf: ich nehme wohl zwei Körper wahr, aber nicht das Gravitationsfeld mitten zwischen ihnen. Es scheint mir freilich ein Streitpunkt zu sein, ob man bei der Auseinandersetzung mit Machschen Gedanken das Wort „wahrnehmbar“ im allergröbsten Sinne nehmen darf.

Natürlich war es etwas unphilosophisch und dogmatisch von mir zu meinen, die Gesetzlichkeit innerhalb eines Zeitschnittes solte nicht als kausal bezeichnen werden. Meine Gründe dafür waren nur: 1) Die Tatsache, daß in der Bewußtseinswirklichkeit die Zeit eben doch eine ausgezeichnete Rolle zu spielen scheint, und 2) daß jene Gesetzlichkeiten einen andern Charakter tragen müßten als die in der Zeitrichtung. Aber das sind nur subjektive Gründe, die sich vielleicht bei näherer Betrachtung sogar zerstreuen lassen.

Wenn es doch möglich wäre, über diese Dinge ein paar Worte mündlich von Ihnen noch zu hören! Wir hoffen von Herzen, daß Sie uns die Freude bereiten werden, in Rostock Station zu machen, wenn es Ihre Zeit nur irgend gestattet! Über Warnemünde reisen Sie doch wohl unter allen Umständen? Im allerungünstigsten Falle bitte ich Sie uns wenigstens den Zeitpunkt Ihrer Durchreise wissen zu lassen, damit die Möglichkeit gegeben ist, Sie im Zuge zu begrüßen. Wir erhoffen eine recht günstige Nachricht und hegen die herzlichsten Wünsche für Ihr Wohl. Nochmals innigen Dank für Ihren Brief! Mit der Bitte um beste Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin

Ihr dankbar ergebener

M. Schlick

P.S. Ein Exemplar der englischen Übersetzung von „Raum und Zeit“ werde ich heute an Sie abschicken.