Moritz Schlick an Albert Einstein

Wien IV, 14. Juli 1927

Prinz-Eugen-Str. 68

Hochverehrter lieber Herr Professor,

für Ihre freundlichen Zellen und für die liebenswürdige Absicht, Fräulein Rosenberg bei ihren palestinensischen Plänen zu unterstützen, sage ich Ihnen meinen allerherzlichsten Dank, im Namen meiner Schülerin und in meinen eigenen. Frl. R. konnte Ihnen damals den beabsichtigten Besuch nicht machen, da sie Berlin plötzlich verlassen musste. Sie wird aber voraussichtlich im Herbst zurückkehren und sich dann mit Ihrer Erlaubnis in den Schutz Ihrer freundlichen Empfehlungen begeben.

Ich weiss nicht, ob es Sie interessiert, aber ich möchte Ihnen doch gerne mitteilen, dass ich jetzt mit der grössten Begeisterung bemüht bin, mich in die Grundlagen der Logik zu vertiefen. Die Anregung dazu verdanke ich hauptsächlich dem Wiener Ludwig Wittgenstein, der einen (von Bertrand Russell englisch und deutsch herausgegebenen) „Tractatus logico-philosophicus“ geschrieben hat, den ich für das tiefste und wahrste Buch der neueren Philosophie überhaupt halte. Allerdings ist die Lektüre äusserst schwierig. Der Verfasser, der nicht die Absicht hat, je wieder etwas zu schreiben, ist eine Künstlernatur von hinreissender Genialität, und die Diskussion mit ihm gehört zu den gewaltigsten geistigen Erfahrungen meines Lebens. Seine Grundanschauung scheint mir die Schwierigkeiten des Russellschen Systems spielend zu überwinden, und im Prinzip auch die ganze Grundlagenkrise der gegenwärtigen Mathematik. Ich glaube viel gelernt zu haben und kann kaum sagen, wie primitiv und unreif meine Erkenntnistheorie mir jetzt erscheint.

Verzeihen Sie bitte, dass ich Ihnen von diesen Dingen erzähle, da Sie doch wahrscheinlich mit ganz andern Problemen beschäftigt sind. Aber wes das Herz voll ist, des läuft der Mund über, und da ich mich entsinne, dass Sie sich vor zwei Jahren für Russells mathematische Philosophie interessiert hatten, und nicht weiss, ob Sie schon irgendwie auf die Wittgensteinsche Logik aufmerksam geworden sind, so nahm ich mir die Freiheit, darauf als auf etwas wirklich Grosses und Tiefes hinzuweisen. Vielleicht werden Sie sich in Mussestunden gern einmal auf dies Gebiet begeben, wo (im Gegensatz zur Physik) keine eigentliche Erkenntniserweiterung, aber doch intellektuelle Beruhigung zu finden ist.

Mit den herzlichsten Wünschen für Ihre Gesundheit und Arbeit Ihr in Dankbarkeit ergebener

M. Schlick.