Bernstein, Aaron, Naturwissenschaftliche Volksbücher, Bd. 6/11, 1897

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67729 Idee dieſes Organs”. Von einer eingehenden anatomiſchen
und phyſiologiſchen Beobachtung war hierbei ebenſo wenig die
Rede wie von einer Analyſe der pſychiſchen Funktionen;
daher
iſt es erſtaunlich, wie eine derartige rein willkürliche und un-
geheuerliche Hypotheſe ſeinerzeit das Aufſehen erregen und
gläubige Hörer finden konnte.
Schon die erſte Vorausſetzung
der Schädellehre, nämlich der Parallelismus der Schädel- und
Hirnform, widerſpricht den Thatſachen.
Eine wirkliche naturwiſſenſchaftliche Grundlage iſt alſo für
eine ſo eingehende Schädellehre durchaus nicht vorhanden.
Es
iſt wahr, daß der Schädel, alſo die Knochendecke des Gehirns,
der Form des Gehirns entſpricht.
Es iſt auch richtig, daß im
allgemeinen abweichende Formen dieſes Schädels abweichende
Formen des Gehirns anzeigen, und man darf zugeſtehen, daß
die Formen des Gehirns auch auf den Charakter des Menſchen
von weſentlichem Einfluß ſind.
Allein diejenigen ſpeziellen
Eigenſchaften, welche man am Schädel und beſonders in jeder
einzelnen Stelle desſelben ſucht und finden will, ſind teilweiſe
gar nicht ſo einfach, wie die Namen der Dinge vermuten
laſſen, teils ſind ſie nicht bloße Natureigenſchaften, ſondern
müſſen erſt aus dem Umgangsleben der menſchlichen Geſell-
ſchaft entſpringen und erhalten ihren wirklichen Wert erſt
durch die Verhältniſſe, unter denen ſie zum Vorſchein kommen.
— Was beim Reichen “Geiz” genannt werden muß, kann beim
Armen weiſe Sparſamkeit ſein, was unter gewiſſen Verhält-
niſſen für Mitleid gilt, kann unter veränderten Verhältniſſen
Charakterſchwäche genannt werden;
dieſelbe Handlung, die heute
eine Tugend iſt, kann morgen unter andern Zuſtänden als
gräuliches Laſter gelten.
Sind alſo ſchon die Handlungen ſo
unſicher zu bezeichnen, um wieviel größere Unſicherheit muß
darin herrſchen, wenn man die bloße Fähigkeit oder die bloße
Neigung zu Handlungen zum Gegenſtand eines Urteils nimmt!
Es iſt zwar ſicher, daß die einzelnen Teile des

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