Moritz Schlick an Albert Einstein

Kiel, d. 13. Aug. 1922

Hochverehrter, lieber Herr Professor,

die Übersendung des beifolgenden Exemplars der neuen Auflage der kleinen Raum-und-Zeit-Schrift gibt mir eine willkommene Gelegenheit, Ihnen einige Zeilen zu schreiben. Das Büchlein ist an einigen Stellen etwas verändert und vervollständigt worden; wenn Sie an diesen Verbesserungen noch etwas verbessert zu sehen wünschen, so wäre ich Ihnen für eine kurze Nachricht von Herzen dankbar; besonders wertvoll wäre es mir zu wissen, ob Sie mit den Bemerkungen über das Rotations-Problem einverstanden sind, die auf S. 77 stehen.

Ich hätte Ihnen das Exemplar so sehr gern persönlich bei Ihrem letzten Aufenthalt in Kiel überreicht, und es war mir sehr schmerzlich, dass es mir nicht vergönnt war, Sie während des kurzen Besuches zu sehen. Doch suchten Sie in den wenigen Tagen gewiss auch Erholung von den anstrengenden Berliner Pflichten, und so habe ich nicht gewagt, Sie aufzusuchen, als ich von Ihrem Hiersein erfuhr. Jetzt tut mir der Gedanke besonders weh, dass ich Ihnen nun auch im September in Leipzig nicht begegnen kann. Ich war sehr bestürzt, als ich durch Planck und Laue von Ihrer Absage erfuhr, und Sie könne sich denken, welche Abscheu mich erfüllte, dass (wie Planck sich ausdrückte) eine Mörderbande das Programm der Leipziger Tagung (1) stört. Das ist ein trauriges Kapitel. Es erinnert mich an eine andere Angelegenheit, über die ich Ihnen heute kurz berichten möchte. Es handelt sich um meine Nachfolge hier in Kiel (denn ich bin nun endgültig entschlossen, zum nächsten Semester nach Wien zu gehen). Sie waren damals so freundlich, mich auf eine Anregung von W. Koehler hin mich auf Wertheimer aufmerksam zu machen. Ich meinte zuerst, dass W. nicht in Frage kommen könne, weil die Universität Kiel ihm kein experimentalpsychologisches Institut zu bieten vermag, aber Koehler hat mich dann über diesen Punkt beruhigt und mich überzeugt, dass Wertheimer der rechte Mann sei, gerade auch eine rein philosophische Lehrkanzel zu bekleiden und auf ein Experimental-Institut nicht unbedingt angewiesen sei. Ich bin dann mit Wärme für ihn eingetreten, und es ist gelungen, ihn auf die Liste der Kommission zu bringen. Die Vollfakultät hat ihn aber wieder gestrichen (über die mutmasslichen Gründe schweige ich), überhaupt die Vorschläge der Kommission umgestossen, und schliesslich blieb auf der dem Ministerium einzureichenden Liste nur ein einziger Name übrig: der des Giessener Ordinarius e. v. Aster. Ich halte diese Wahl für ganz glücklich, denn Aster ist sehr tüchtig und arbeitsam, aber seine Nennung unico loco halte ich nicht für gerechtfertigt, und so habe ich dem Schreiben der Fakultät ein Separatvotum beigelegt, in dem ich vor allem auf Wertheimer aufmerksam mache. Ich hoffe von Herzen, dass es ihm irgendwie helfen wird. Nächst Wertheimer habe ich mich auch sehr für H. Reichenbach eingesetzt, aber bei der Fakultät wenig Verständnis dafür gefunden, obgleich mein Fachkollege Scholz mir dabei zur Seite stand. Die Fakultät scheint weniger nach einem Philosophen als nach einem abgestempelten Philosophieprofessor zu trachten. In diesem Fall habe ich wegen der Aussichtslosigkeit des Unternehmens von einem Separatvotum abgesehen. Alle diese Mitteilungen sind natürlich ganz vertraulich.

Es wird mir doch recht schwer, nach Wien zu gehen, nicht nur, weil die Zukunft in Oesterreich so dunkel aussieht, sondern auch, weil ich mich zuletzt unter den Kollegen und Studenten hier überaus wohl gefühlt habe. Aber das Wiener Klima ist besser und die Aufgaben für einen philosophischen Lehrer sind größer.

Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen eine glückliche Reise nach Japan, hoffe Sie recht bald in Wien wiederzusehen und bleibe mit den besten Wünschen für Ihr und der Ihrigen Wohlergehen in Verehrung und Dankbarkeit

Ihr

M. Schlick

Adresse: Rostock, Orléans-Str. 23