Moritz Schlick an Albert Einstein

Wien IV, Prinz-Eugen-Str. 68

5. Juni 1927.

Hochverehrter, lieber Herr Professor,

gestatten Sie mir, mich Ihnen heute mit einer Bitte zu nahen. Eine Schülerin von mir, Frl. Rosenberg, Dr. phil., aus Palästina, die sich gegenwärtig für kurze Zeit in Berlin aufhält, hat die Absicht, in Palästina ein Kinderheim zu gründen, eine Einrichtung, für die dort ein sehr dringendes Bedürfnis besteht. Ich kenne sie seit langem als einen Menschen von reinstem Charakter und ganz ungewöhnlich entwickelten sozialen Gefühlen, sie besitzt eine enorme Opferwilligkeit und Arbeitsfreude, und ist bei ihrem jetzigen Vorhaben nicht von zionistischen, sondern rein menschlichen Gedanken beseelt. Für ihre Persönlichkeit stehe ich voll ein. In Wien hat sie für den Plan Interesse gefunden, und wohlhabende Privatleute haben ihr einen Teil der für die Gründung erforderlichenohnehin nur bescheidenenMittel zugesagt. Sie möchte aber auch in Berlin für die Sache werben, und dazu bedarf sie einer Empfehlung an einige Persönlichkeiten, die vielleicht willens wären, den guten Zweck zu unterstützen. Frl. Rosenberg ist der Überzeugung, daß ein paar empfehlende Worte von Ihnen, lieber, hochverehrter Herr Professor, ihr bei solchen Persönlichkeiten die Tür ohne weiteres öffnen würden. Gewiß werden Ihnen einige solche gütigen und interessierten Menschen bekannt sein, und ich bitte Sie daher recht herzlich, Frl. Rosenberg freundlichst empfangen zu wollen, und wenn Sieworan ich nicht zweifleeinen guten Eindruck von ihr zu erhalten, ihr ein paar empfehlende Zeilen mitzugeben, die dann sicher ihren Zweck erfüllen werden.

Ich hoffe von Herzen, daß meine Bitte keine Belästigung für Sie bedeutet.

In der gegenwärtigen Physik auf dem laufenden zu bleiben, fällt mir äußerst schwer. Schrödinger hat hier vor Monaten einen sehr schönen Vortrag gehalten, aber, wie ich höre, billigen Sie seine Interpretation nicht.

Ich bin, außer in ethische Gedankengänge, seit langem in die neue Logik (Frege, Russell, Wittgenstein) verstrickt und stehe bewundernd vor der großen Gedankenarbeit, die dort geleistet ist, und von der ich mir nichts geringeres verspreche als eine gänzliche Reformnämlich eine völlige Überwindung, Entbehrlichmachung – der Philosophie.

Mit den allerherzlichsten Wünschen für Ihr und Ihrer Familie Wohlbefinden bleibe ich in tiefer Dankbarkeit Ihr

ergebener

M. Schlick